Analytische Stellenbewertung, Summalytik oder Summarik! Was darf es sein?

In meinen letzten Blogeinträgen und LinkedIn-Beiträgen habe ich mich immer wieder für den Einsatz analytischer Methoden zur Arbeitsbewertung ausgesprochen. Derzeit steht besonders die EU-Lohntransparenzrichtlinie im Rampenlicht. Sie zielt darauf ab, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für gleiche oder gleichwertige Arbeit zwischen Männern und Frauen durch Transparenz und strenge Durchsetzungsmechanismen zu stärken.

In dieser Richtlinie wird betont, dass die Feststellung von „gleichwertiger Arbeitobjektive Kriterien erfordert und anhand gewichteter Faktoren erfolgen soll, die für die jeweilige Organisation relevant und angemessen sind. 

Während meiner Teilnahme an der jüngsten „Total Rewards“-Konferenz von WorldatWork im Mai 2025 in Orlando habe ich festgestellt, dass die Stellenarchitekturen vieler amerikanischer Organisationen immer noch auf simplen, nicht analytischen Methoden der Stellenklassifizierung (Job Classification) beruhen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der „Job Evaluation and Market Pricing Practices Survey“, die gradar und WorldatWork im Jahr 2020 in Zusammenarbeit durchgeführt haben. Die Studie ergab, dass 80 % der Teilnehmer Benchmarking als Hauptmethode zur „Stellenbewertung“ verwenden. Solche nicht-analytischen Methoden werden häufig für die Einstufung von Stellen im Rahmen von Vergütungserhebungen oder umfassenderen Stellenarchitekturen eingesetzt – vor allem aufgrund ihrer vermeintlichen Einfachheit und leichten Implementierung. 

Gleichwertige Arbeit 

Es stellt sich jedoch die kritische Frage: Kann eine nicht-analytische Summarik "gleichwertige Arbeit" korrekt und zuverlässig bewerten? 

Bei der analytischen Stellenbewertung, die insbesondere auf Punktfaktoren basiert, werden Stellen systematisch in ihre einzelnen Bestandteile, einschließlich beruflicher Anforderungen, Bildungs-, Aus- und Weiterbildungsbildungsanforderungen, Kompetenzen, Belastungen, Verantwortung und Arbeitsbedingungen, zerlegt.  

Diese Kriterien, die ursprünglich vom einflussreichen Genfer Schema aus den 1950er Jahren der Internationalen Arbeitsorganisation  (ILO) aufgestellt und später in ihrem umfassenden Leitfaden zur geschlechtsneutralen Arbeitsbewertung (2009) , bekräftigt wurden, sollen gewährleisten, dass jeder Aspekt objektiv erfasst und bewertet wird, was detaillierte und transparente Vergleiche zwischen allen Arbeitsplätzen (Stellen) innerhalb einer Organisation ermöglicht. Das Arbeitspapier SWD(2013) 512 der Europäischen Kommission befürwortet ausdrücklich solche analytischen Analysemethoden, da sie das Potenzial haben, diskriminierende Praktiken zu verringern, und somit "am besten für die Stellenbewertung in einem Gleichstellungskontext geeignet sind". 

Rechtlicher Präzedenz 

Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung innerhalb der EU, wie z.B.: 

  • Zusammenfassung: Die Rechtssache Defrenne II ist ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), mit dem der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit festgelegt wurde. In dem Fall ging es um Gabrielle Defrenne, eine belgische Stewardess, die schlechter bezahlt wurde als ihre männlichen Kollegen. Der EuGH entschied, dass der Grundsatz des gleichen Entgelts unmittelbar wirksam ist, d. h. er kann von Einzelpersonen vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Diese Entscheidung war von entscheidender Bedeutung für die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern im Beschäftigungsbereich in der gesamten Europäischen Union. 
  • Zusammenfassung: Die Rechtssache Gisela Rummler ist eine wichtige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in der es um die Verwendung von körperlicher Anstrengung und Muskelbeanspruchung als Kriterien in Systemen zur Einstufung von Arbeitsplätzen für die Festlegung der Lohnsätze geht. In dem Fall ging es um Gisela Rummler, eine Angestellte einer deutschen Druckerei, die eine Neueinstufung in eine höhere Gehaltsklasse beantragte. Der EuGH entschied, dass Systeme zur Einstufung von Arbeitsplätzen Kriterien wie Muskelanstrengung oder die Schwere der Arbeit enthalten können, sofern diese Kriterien durch die Art der Aufgaben objektiv gerechtfertigt sind und nicht zu einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts führen. Der Gerichtshof betonte, dass solche Systeme auf Kriterien beruhen müssen, die für Männer und Frauen gleichermaßen gelten, und dass sie nicht systematisch ein Geschlecht benachteiligen dürfen. In der Entscheidung wurde klargestellt, dass die körperliche Anstrengung zwar ein Faktor bei der Einstufung von Arbeitsplätzen sein kann, dass sie aber Teil eines umfassenderen Systems sein muss, das verschiedene Kriterien berücksichtigt, um die Nichtdiskriminierung zu gewährleisten. 
  • Zusammenfassung: Der Fall Danfoss verdeutlicht die Verlagerung der Beweislast in Fällen von Entgeltgleichheit bei mangelnder Transparenz. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass die Beweislast für das Nichtvorliegen einer Diskriminierung auf den Arbeitgeber übergeht, wenn dieser keine transparenten Informationen über die Entgeltstrukturen bereitstellt. Diese Entscheidung unterstreicht, wie wichtig die Transparenz der Entgeltsysteme ist, um gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit zu gewährleisten. 
  • Zusammenfassung: In der Rechtssache Kutz-Bauer wurde die Forderung nach geschlechtsneutralen Arbeitsbewertungen bekräftigt. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Arbeitsbewertungssysteme frei von geschlechtsspezifischen Verzerrungen sein müssen, um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit zu gewährleisten. In dem Fall ging es um eine deutsche Sozialarbeiterin, Monika Kutz-Bauer, die argumentierte, dass ihre Arbeit im Vergleich zu männlich dominierten Aufgaben unterbewertet sei. Das Gericht bestätigte, dass die Methoden der Arbeitsbewertung objektiv und nicht diskriminierend sein müssen, um zu gewährleisten, dass Tätigkeiten, die traditionell von Frauen ausgeübt werden, nicht systematisch unterbewertet werden. 
  • Zusammenfassung: Die Rechtssache Brunnhofer ist eine wichtige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in der die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit geklärt wurde. In der Rechtssache ging es um Frau Brunnhofer, eine Angestellte einer österreichischen Bank, die eine niedrigere monatliche Vergütung erhielt als ein männlicher Kollege in der gleichen Tätigkeitsgruppe. Der EuGH entschied über die Beweislast in Fällen gleichen Entgelts und stellte fest, dass es in erster Linie Sache des Arbeitnehmers ist, eine Entgeltdiskriminierung zu beweisen. Sobald diese nachgewiesen ist, liegt es am Arbeitgeber, etwaige Entgeltunterschiede mit objektiven, nicht diskriminierenden Faktoren zu rechtfertigen. Der Gerichtshof betonte auch, dass die Einstufung in dieselbe Berufsgruppe im Rahmen eines Tarifvertrags allein nicht ausreicht, um gleiche oder gleichwertige Arbeit nachzuweisen. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung objektiver Kriterien und transparenter Entgeltstrukturen, um die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Beschäftigung zu gewährleisten. 
  • Zusammenfassung: In der Rechtssache Tesco Stores wurde der Grundsatz des Vergleichs "gleichwertiger Arbeit" zwischen verschiedenen Standorten und Betrieben ausgeweitet. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Arbeitnehmer ihr Entgelt mit Kollegen an verschiedenen Standorten oder in verschiedenen Funktionen innerhalb desselben Unternehmens vergleichen können, wenn es eine "einzige Quelle" gibt, die für die Entgeltbedingungen verantwortlich ist. Nach dieser Entscheidung können überwiegend weibliche Beschäftigte in den Ladengeschäften ihr Entgelt mit überwiegend männlichen Beschäftigten in Verteilungszentren vergleichen, was zu erheblichen Lohnnachforderungen für gleiche und gleichwertige Arbeit führen kann. 

Diese Fälle stellen insgesamt einige wichtige Meilensteine in der Entwicklung der Rechtsvorschriften zur Lohngleichheit und zur Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz in der Europäischen Union dar. 

Andererseits werden bei nicht-analytischen Methoden Arbeitsplätze auf der Grundlage von Arbeitsplatzbeschreibungen und subjektiven Einschätzungen, die häufig von traditionellen Berufsrollen und geschlechtsspezifischen Vorurteilen beeinflusst sind, grob in vordefinierte Klassen eingeteilt. Diese Klassifizierungen können ungewollt zu einer Unterbewertung führen, z.B. Technicians vs. Business Support, insbesondere von frauendominierten Tätigkeiten. 

Die europäische und britische Rechtsprechung unterstreicht die Risiken, die mit intransparenten und subjektiven Methoden verbunden sind. Vor diesem Hintergrund könnte der alleinige Rückgriff auf nicht-analytische Methoden Organisationen rechtlichen und Reputationsrisiken aussetzen, insbesondere unter der verschärften Kontrolle der EU-Entgelttransparenzrichtlinie. 

Wie geht es jetzt weiter? 

Angesichts des Mangels an regulatorischen Details bestehen erhebliche Bedenken hinsichtlich der Klarheit und Rechtssicherheit bei der Definition gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Die derzeitige Definition spiegelt lediglich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wider, die sich weiterentwickeln kann, was sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer zu anhaltender Rechtsunsicherheit führt. Speziell für Deutschland bleibt die bestehende Vermutung der Angemessenheit von Tarifverträgen nach dem aktuellen deutschen Entgelttransparenzgesetz unzureichend klar. Eine explizitere Annahme, dass Tarifverträge von Natur aus mit den Standards der Geschlechtergerechtigkeit übereinstimmen, würde Unklarheiten und nachfolgende Prozessrisiken verringern, vorausgesetzt, dass diese Verträge wirklich gleichwertige Arbeit bewerten und nicht nur individuelle Lohnpräferenzen durch personenbezogene Eingruppierungen widerspiegeln. 

Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass der Gesetzgeber die Absicht der EU, die sich hinter diesen detaillierten Anforderungen verbirgt, nicht immer vollständig erfassen kann. Folglich wird die Aufgabe, zu bestimmen, ob bestimmte Arbeitsplätze tatsächlich "gleichwertig" sind, wahrscheinlich den Gerichten zufallen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit transparenter und objektiver Bewertungsmethoden, da es Aufgabe der Gerichte sein wird, diese Standards auszulegen und in praktischen Fällen anzuwenden. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine analytische, auf Punkten und Faktoren basierende Bewertung nicht nur die Einhaltung der sich entwickelnden rechtlichen Rahmenbedingungen sicherstellt, sondern auch einen robusten, transparenten Rahmen für eine echte Bewertung von "gleichwertiger Arbeit" bietet. Während nicht-analytische Methoden auf den ersten Blick einfacher erscheinen mögen, stellen die erhöhte Transparenz und Fairness, die analytischen und summalytischen Methoden innewohnen, eine umsichtige langfristige strategische Investition für Organisationen dar, die sich für Fairness, Gleichberechtigung und Konformität einsetzen. 

Praktische Herausforderungen bei der Umsetzung 

Die Umsetzung analytischer Methoden zur Stellenbewertung kann in der Tat praktische Hürden mit sich bringen. Die Analyse jeder einzelnen Stelle auf gleichwertige Arbeit ist selten durchführbar oder wirtschaftlich sinnvoll, so dass eine Konsolidierung von Positionen zu umfassenderen Stellen (Jobs) innerhalb einer kohärenten Stellenarchitektur erforderlich ist. Auf diese Weise können die Ergebnisse der Stellenbewertung, wie z. B. die zugewiesene Stellenfamilie und das Grade, an die Stelleninhaber weitergegeben werden, deren Entgelt dann auf lokaler Ebene durch Marktbenchmarks (wie im amerikanischen Kontext üblich) oder Gehaltsbänder (typisch für den europäischen Kontext) festgelegt wird. 

Grading-Vorlagen

Figure 1 Dies ist ein Screenshot der vollständig anpassbaren Bewertungsvorlagen von gradar, die einen hybriden, summalytischen Ansatz mit analytisch fundierten Bewertungen ermöglichen. 

Unter Berücksichtigung der praktischen Notwendigkeit einer raschen Stellenbewertung, wie sie häufig durch Stufenbeschreibungen (P1 / P2 / P3 / …) in traditionellen nicht-analytischen Stellenklassifikationen erleichtert wird, könnte ein hybrider, summalytischer Ansatz eine ausgewogene Lösung darstellen. In diesem Modell würden die anfänglichen Stufenbeschreibungen analytisch fundiert sein und einen soliden Grundstandard bieten. Anschließend wären kontrollierte Abweichungen von Fall zu Fall, von Stelle zu Stelle, möglich, so dass eine rasche Einstufung unter Wahrung der Grundsätze der Transparenz und objektiven Vergleichbarkeit möglich wäre. 

Vorteile über die Einhaltung von Vorschriften hinaus 

Die Einführung eines analytischen Stellenbewertungssystems wie gradar bringt einen strategischen Nutzen, der weit über die bloße Einhaltung von Vorschriften hinausgeht. Ein solcher strukturierter Rahmen bietet Organisationen folgende Vorteile: 

  • Klare Verknüpfung mit Gehaltsbenchmarks und Vergütungsstrukturen zur Verbesserung der externen Wettbewerbsfähigkeit und der internen Gerechtigkeit. 
  • Verbesserte Integration des Talentmanagements, bei dem Stellenbeschreibungen, erforderliche Kompetenzen und spezifische Fähigkeiten explizit auf detaillierte Stellenprofile abgestimmt werden. 
  • Verbesserte Governance und Verwaltung, Straffung der Entscheidungsfindung durch Konsolidierung der Stellenstrukturen und erhebliche Verringerung des mit den fragmentierten Stelleneinstufungssystemen verbundenen Verwaltungsaufwands. 
  • Fokussierte Einblicke in Talente, die es Personalern und Führungskräften ermöglichen, die Anforderungen an Talente besser zu verstehen und gezielte Strategien für die Gewinnung, Entwicklung und Bindung von Talenten zu entwickeln. 
  • Erhöhtes Mitarbeiterengagement und interne Mobilität durch transparente Klärung der Karrierewege, konsequente Nachfolgeplanung und Förderung der funktionsübergreifenden Talentmobilität. 

Eine klar definierte Stellenarchitektur löst nicht nur die traditionellen Herausforderungen der Eingruppierung, sondern dient auch als strategische Grundlage für alle Kernprozesse des Talentmanagements, von der Vergütung über die Karriereentwicklung bis hin zum Leistungsmanagement, und verankert so Fairness, Klarheit und organisatorische Effektivität in der täglichen Personalarbeit. 

Engagement von Mitarbeitern und Stakeholdern 

Die aktive Einbeziehung von Arbeitnehmern und Interessenvertretern ist bei der Umsetzung analytischer Arbeitsbewertungsmethoden von entscheidender Bedeutung. Dies wird in den Leitlinien der ILO zur geschlechtsneutralen Arbeitsbewertung nachdrücklich betont. Eine solche Beteiligung ist unerlässlich, um Transparenz, Fairness und breite Akzeptanz der Ergebnisse zu gewährleisten. In der EU-Entgelttransparenzrichtlinie wird die Bedeutung der Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern ausdrücklich unterstrichen, um die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von Maßnahmen zur Lohntransparenz zu erhöhen. 

Unternehmen profitieren erheblich davon, wenn sich Mitarbeiter und Interessengruppen aktiv an der Gestaltung, Validierung und laufenden Verwaltung von Stellenbewertungssystemen beteiligen. Eine frühzeitige und kontinuierliche Einbindung der Beteiligten erleichtert das Veränderungsmanagement und fördert eine Kultur der gemeinsamen Verantwortung und gegenseitigen Rechenschaftspflicht. Dies stärkt letztlich das Vertrauen und die Akzeptanz der Bewertungsergebnisse. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine sorgfältige Bewältigung praktischer Herausforderungen, eine klare Kommunikation der allgemeinen Vorteile für die Organisation sowie eine aktive Einbindung von Interessengruppen die erfolgreiche Umsetzung und Nachhaltigkeit analytischer Stellenbewertungsmethoden erheblich verbessern.